Kategorie: Allgemein

  • Rezension: Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus

    Rezension: Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus

    9783406659218_cover[1]In der Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel vollzogen: unter dem Etikett der „transnationalen“ bzw. „Globalgeschichte“ werden in einem stark wachsenden Feld der Geschichtswissenschaft Wechselwirkungen und Verflechtungen der globalisierten Welt untersucht und dabei der Versuch unternommen, die eurozentrische und nationalgeschichtliche Perspektive älterer Historiografie zu überwinden.[1]

    Insbesondere global gehandelte Güter wie Kaffee, Zucker, Tee oder Baumwolle bieten sich an, transnationale Verflechtungen kenntlich zu machen und ermöglichen eine Verbindung von regionaler Mikro- mit globaler Makrogeschichte.[2]

    Der Harvard-Professor Sven Beckert hat nun mit „King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kaptialismus“ eine beeindruckende Studie vorgelegt, die anhand Baumwollproduktion und –industrie Antworten auf die Frage sucht, warum und wie es zu den bis heute wirkmächtigen Unterschieden zwischen dem globalen Norden und Süden – der „Great Divirgence“ gekommen ist.[3]

    Dass Beckert Baumwolle in den Fokus seiner Forschung stellt, ist einleuchtend: Wie kaum ein anderer Rohstoff steht die Veränderung der Baumwollproduktion am Anfang der globalen Ausbreitung des Kapitalismus – von intensiver Arbeitsteilung, Produktionssteigerung und expandierender sozialer Ungleichheit.

    Dabei begnügt sich Beckert nicht mit konventionellen Antworten im Rahmen des Modernisierungsnarrativs – nach dem Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Kapitalismus zusammengedacht werden, sondern stellt Zusammenhänge zwischen der Transformation des Wirtschaftssystems und der imperialen Expansion her. Denn, so Beckert, Sklaverei, kolonialer Landraub und der Einsatz von Zwang und Gewalt zur Gewinnmaximierung seien nicht nur Ausrutscher des kapitalistischen Systems. Vielmehr stünde die von ihm als „Kriegskapitalismus“ bezeichnete Phase der „Enteignung von Land und Arbeitern in Afrika, Asien und den Amerikas“ am Anfang eines sich global ausbreitenden Kapitalismus und brachte den Industriekapitalismus erst hervor.

    Damit widerspricht Beckert auch einem Trugschluss wirtschaftsliberaler Theoretiker, dass sich der Markt optimaler Weise ohne die Einmischung des Staates entwickeln würde. Der Staat habe im Gegenteil erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es einen Markt gibt. Die Genese und Entwicklung moderner Nationalstaaten und die Globalisierung schlössen demzufolge auch nicht aus sondern bedingen und verstärkten sich wechselseitig: „Wenn unser angeblich neues globales Zeitalter sich auf revolutionäre Weise von der Vergangenheit unterscheidet, […] dann dadurch, dass Kapitalbesitzer erstmals in der Lage sind sich von genau jenen Nationalstaaten zu emanzipieren, die in der Vergangenheit ihren Aufstieg ermöglicht haben.“[4]

    Beckerts Verdienst ist, dass er diese Zusammenhänge nicht nur als große These verfolgt, sondern sie auf einer breiten empirischen Basis belegt. Herausgekommen ist keine theoretische Analyse des globalen Kapitalismus sondern ein Breites Panorama des „Kapitalismus in Aktion“.

    [1] In den letzten Jahren erschien eine Reihe globalgeschichtlicher Studien, von denen drei herausragende Arbeiten genannt werden sollen: Bayly, Christopher Alan: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780 – 1914, Frankfurt 2006; Wendt, Reinhard: Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn [u.a.] 2007; Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Viele Studien, denen das Etikett „transnationale“ bzw. „Globalgeschichte“ anhaftet, sind freilich Studien globaler Phänomene im nationalen Kontext. Oft ist der Unterschied zur historischen Komparatistik zudem unklar. Der schwierigen Etikettierung zum Trotz, erweitern diese Arbeiten die Perspektive der nationalen Geschichtsschreibung und ermöglichen dadurch einen fruchtbaren Zugriff auf historische Gemengelagen, so u.a. Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006.

    [2] Vgl. u.a.: Clarence-Smith, W. G.; Topik, Steven: The global coffee economy in Africa, Asia and Latin America, 1500-1989, Cambridge, UK, New York 2003; Mintz, Sidney W.: Sweetness and power. The place of sugar in modern history, New York 1985; Mair, Victor H.; Hoh, Erling: The true history of tea, New York, London 2009; Riello, Giorgio: Cotton. The fabric that made the modern world, Cambridge 2013.

    [3] Pomeranz, Kenneth: The great divergence. China, Europe, and the making of the modern world economy, Princeton, N.J. 2000.

    [4] Beckert, Sven: King Cotton: Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2014, S. 17.

  • Großbritannien „entdeckt“ 170.000 Akten

    Großbritannien „entdeckt“ 170.000 Akten

    „Surprise, surprise. We’ve heard this before.“ kommentiert Harvard Professorin Caroline Elkins in der VICE den neuesten Fund vermeintlich verschollener Akten des Foreign and Commonwealth Office. Über 600.000 Akten (unter anderem bisher unbekannte Akten über den transatlantischen Sklavenhandel) lagern noch in den „special collections“ des FCO, die der Öffentlichkeit nicht zugängig sind. Damit verstößt das FCO seit Jahren gegen das britische „Public Records“ Gesetz, das den öffentlichen Zugang zu Archivgut regelt. Schon länger besteht unter Historikern der Verdacht, dass das FCO die Akten der „special collections“ wissentlich geheimhält.

     

     

  • IS-Terror

    Wer dieser Tage den Fernseher einschaltet, Nachrichtenseiten besucht oder Zeitung liest, wird sich des Eindruckes nicht erwehren können, dass die Dämonen der Vergangenheit zu Teufeln der Gegenwart geworden sind.

    Der Antagonist von Leben, Freiheit und Würde

    In Syrien und im Irak ist mit dem „Islamischen Staat“ ein Ableger von Al-Qaida entstanden, der so bösartig, so grotesk und radikal als Antagonist von Leben, Freiheit und Würde der dort lebenden Menschen auftritt, dass es unmöglich scheint dies in irgendeiner Weise zu ignorieren.

    Die Solidarität mit der kurdischen Bevölkerung, die versucht den Angriffen des IS standzuhalten, bringt dieser Tage viele Menschen auf die Straße und führte in Hamburg vergangene Woche zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Salafisten.

    Selbst Menschen, die nicht zum Bellizismus neigen, stellen sich die Frage, wie mit einem militärisch-politischen Akteur umgegangen werden kann, der die Negierung fast aller wesentlicher Fundamente einer aufgeklärten, demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft repräsentiert und zur Bedrohung nicht nur der Bevölkerung in Syrien und im Irak sondern der gesamten umgebenden Region geworden ist und letztlich auch einen totalitären weltumspannenden Allmachtsanspruch formuliert. (Hier gibt es einen ISIS Fact Sheet von Adopt A Revolution: https://www.adoptrevolution.org/isis-factsheet/).

    Waffenlieferungen, Luftwaffeneinsätze, Bodentruppen?

    Mit Diplomatie und guten Worten wird sich der IS jedenfalls nicht stoppen lassen – das haben eigentlich alle erkannt.

    Und so denkt selbst die LINKE, bisher für ihre rigorose und grundsätzliche Ablehnung aller militärischen Interventionen bekannt, öffentlich über Militäreinsätze nach.

    Und doch möchte man den politischen Entscheidungsträgern zurufen, dass sie doch bitte ein paar Geschichtsbücher in die Hand nehmen mögen. Denn der IS ist auf einem Boden der Destabilisierung und des Machtvakuums gewachsen, den Amerika und Europa mit zu verantworten haben. Und so kann Angela Merkels Satz „ISIS liegt in unserem Verantwortungsbereich.“ zugleich als Bekenntnis wie als Lagebeschreibung gelesen werden.

     

  • Kontrafaktisches Afrika

    Kontrafaktisches Afrika

    africasanscolonizationKontrafaktische Geschichtsschreibung wird von den meisten Historikern nicht als wirklich seriöse Methode anerkannt, da die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit nicht gegeben ist.

    Die Frage nach einem „Was wäre wenn?“ kann aber besonders in didaktischen und pädagogischen Zusammenhängen erhellend wirken und einem deterministischen und teleologischen Geschichtsbild entgegenwirken.

    In diese Sparte fällt auch eine gerade in der Washington Post publizierte Karte Afrikas, welche die Dinge sprichwörtlich auf den Kopf stellt und dabei helfen kann, einen gewissen Teil der Konflikte und Probleme, die durch die Kolonisierung entstanden sind, zu hinterfragen.

    Auf Basis von politischen, ethnischen und linguistischen Studien zeichnete der schwedische Künstler Nikolaj Cyon eine Karte Afrikas, wie sie sich aus den Verhältnissen, die um 1844 vorlagen, hätten entwickeln können.

    Ungewiss bleibt dabei, welche der vielfältigen ethnischen und linguistischen Gruppen 1844 tatsächlich jene Ausbreitung hatten. Unwahrscheinlich ist auch, dass alle dieser Gruppen, Staaten nach Westfälischem System mit klar definierten Territorien gebildet hätten.

    Zum Vergleich der Ikonografie eine 1885 (direkt nach der Kongokonferenz) Herausgegebene Karte, in der die jeweiligen europäischen Ansprüche farbig markiert wurden.
    Zum Vergleich der Ikonografie eine 1885 (direkt nach der Kongokonferenz) Herausgegebene Karte, in der die jeweiligen europäischen Ansprüche farbig markiert wurden.

    Dennoch ist die Karte ein gutes Beispiel für gelungene kontrafaktische Geschichtsschreibung. Sie bedient sich der ikonographischen Ästhetik der politischen Karten des 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts – und dreht sie auf den Kopf. Diese Verfremdung kulturell gelernter Perspektiven kann dabei helfen, jene wirkmächtigen Bilder zu dekonstruieren, die durch Karten vermittelt wurden und noch heute ein Bild des prä-kolonialen Afrikas zeichnen, das durch das Vorhandensein von großen „weißen Flecken“ geradezu auf die Entdeckung und Kolonisierung wartete.

    Die Zusammenstellung der Washington Post ist insgesamt sehr wertvoll und bekommt ein dringendes Lesezeichen.

     

  • Words that last – oder doch nicht?

    Words that last – oder doch nicht?

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    Screenshot (Quelle: http://www.washingtonpost.com/wp-srv/special/national/words-that-last/)

    Vor einigen Tagen ging eine Studie der University of Reading durch die Medien, in der ein Team von Linguisten 23 vermeintlich „ultraconserved words“ ausgemacht haben, die sich seit 15 000 Jahren in diversen Sprachen nahezu unverändert erhalten haben und auf eine gemeinsame Ur-Sprache („proto-Eurasiatic“) zurückgehen würden.

    Die dahinterstehende Idee ist faszinierend. Könnte man sich in eine Zeitmaschine setzen und einige Tausend Jahre zurück reisen, so würden die Menschen, auf die man dann in Europa oder Asien träfe folgenden Satz verstehen (der haupstächlich aus diesen „ultraconserverd words“ besteht):

    You, hear me! Give this fire to that old man. Pull the black worm off the bark and give it to the mother. And no spitting in the ashes!

    Als Nicht-Linguist war ich zunächst von diesem Ergebnis der Studie begeistert. Bis ich (via Sprachlog) auf eine fundierte wissenschaftliche Kritik dieser Studie stieß. Der Bedeutungswandel den einzelne Wörter durchmachen, ist schon innerhalb einer Sprachfamilie und während einer kurzen Zeitperiode enorm. Sehr eindrucksvoll demonstriert die direkte Übersetzung des obigen Satzes ins Russische wie schwer es wäre, mit 15 000 Jahren Unterschied auch nur annähernd zu verstehen worum es ginge:

    Vy, uslyshte menja! Dajte etot ogon’ tomu staromu muzhu. Potjanite chjornogo chervja s kory i dajte jego materi. I ne plevat’ v pepel!

    Na, verstanden?

    Sehr einleuchtend wird die Kritik auch durch die beispielhafte Darstellung der Entwicklung des englischen Worts „man“, das ebenfalls auf der Liste der „ultraconserved words“ steht. Dieses Wort habe innerhalb von ca. 1000 Jahren einen so enormen Bedeutungswandel vom geschlechtsneutralen „Mensch“ bzw. „Person“ im Alt-Englischen zur geschlechtspezifischen „Mann“ im Mittel-Englischen durchlaufen, dass es als schlichtweg falsch erscheine überhaupt von „ultrakonservierten Wörtern“ zu sprechen.

    Die linguistische Kritik des Artikels endet nach einer stichhaltigen Beweisführung mit dem Fazit, dass die Suche nach Wörtern, die seit der letzten Eiszeit unverändert geblieben seien, zwar verführerisch, aber letztlich aussichtslos sei.

  • Grausame Abgründe

    Grausame Abgründe

    „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist das Thema der Woche. Am Montag titelte die Bild-Zeitung:

    Waren deutsche Soldaten wirklich so grausam?

    Als ob durch den Film bisher unbekannte Wahrheiten ans Licht kämen. Das Fazit der Redaktion lautet:

    Ein Entrinnen aus der Hölle dieses Krieges gab es für die deutschen Soldaten nicht. Wer desertierte, wurde meistens aufgegriffen und von einem Standgericht im Schnellverfahren zum Tode durch Erschießen verurteilt. Mehr als 15 000 solcher Todesurteile wurden verhängt. So blieb den Soldaten nur, den Wahnsinn bis zum Ende zu ertragen. 

    Quelle: bild.de [Hervorhebungen von mir]

    Es ist wohl wahr, dass ein Soldat im Verlauf eines Krieges nur wenige Optionen hat. Desertation ist zwar eine davon, doch hochgefährlich. (Nebenbei: Es bleibt eine bodenlose Frechheit, dass denjenigen, die den Mut hatten, sich gegen dieses System zu entscheiden und zu desertieren noch immer kaum gedacht wird.)

    Dennoch: Der Zweite Weltkrieg war kein Zufall. Er ist nicht „über die Deutschen gekommen“. Die deutsche Bevölkerung hat dieses Regime gewählt und unterstützt, dessen Grundlage unter anderem die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ war.

    Rassismus, Nationalismus und Expansionismus amalgamierten zu einer verbrecherischen Ideologie, von deren Umsetzung in ein Staatskonzept ein großer Teil der Deutschen profitierte.

    Jener Teil, der nach dem Krieg gerne darauf verzichtet hätte, sich mit der eigenen Verstrickung auseinanderzusetzen oder gar die eigene Schuld anzuerkennen.

    Man kann nur staunenderweise den Kopf schütteln, wenn man sich beispielsweise die Karriere eines Hans Globke vor Augen führt, der zunächst an den berüchtigten Nürnberger Rassegesetzen mitgewirkt hat und später bis zu dessen Abwahl Staatsekretär im Kanzleramt von Konrad Adenauer wurde.

    Es sind diese Unfassbarkeiten gepaart mit der Forderung von Opfern dieses Unrechts-Regimes, die Verbrechen niemals zu vergessen (was – wie erwähnt – ein Großteil der Täter und sonstwie Verstrickten lieber doch getan hätte), der es schwer aushaltbar macht, wenn der populärste Kommentar zum oben erwähnten Bericht der Bild Zeitung lautet:

    bild.de Kommentar-Screenshot
    bild.de Kommentar-Screenshot

     

    Die nachkommenden Generationen haben keine Schuld und sie brauchen keinen Schuldkomplex. Aber sie müssen sich ihrer Verantwortung stellen; der Verantwortung so etwas nicht wieder zuzulassen genauso, wie der Verantwortung diese Verbrechen nicht einfach zu vergessen. Das bleiben wir den Opfern schuldig.

    Aber ob es dafür ausgerechnet diesen Film benötigt, daran zweifle nicht nur ich.

  • Eric Hobsbawm ist gestorben

    Eric Hobsbawm ist gestorben

    Eric Hobsbawm
    Eric Hobsbawm (Quelle: http://andrestesta.tumblr.com/post/32663234177/hasta-siempre-eric-hobsbawm)

    Er war einer der ganz großen. Einer der Historiker, die einem das Gefühl geben, das richtige studiert zu haben.

    Die Namen der Wissenschaftler, die einem während seines Studiums ein wirkliches „Aha“-Erlebnis verschafft haben, lässt sich in der Regel an einer Hand abzählen. Oftmals wiederholen sich sich die Argumente in veränderter Form oder es wird etwas allgemein bekanntes in wissenschaftlich präziser Sprache auf den Punkt gebracht.

    Manchmal – je länger man studiert, desto seltener werden diese Momente – aber gibt es diesen Moment der Erleuchtung. Wenn die Welt durch einen Text, durch eine Idee, plötzlich ein Wenig verständlicher wurde und alles etwas klarer erscheint als zuvor.

    So ging es mir mit Michel Foucault und Edward Said. So ging es mir auch Pierre Bourdieu – Philosophen, Literaturwissenschaftler und Soziologen. Aber zu den wenigen Historikern, die mich zu völlig neuen Einsichten bewegt haben, gehören Benedict Anderson („Imagined Communities“) und Eric Hobsbawm.

    Ich bin in den 1980ern im Selbstverständnis aufgewachsen, dass es sowas wie eine „natürliche“ Nation gäbe und dass die innerdeutsche Grenze eben jene Nation unnatürlicher Weise teile und dass eigentlich alle Menschen irgendeiner quasi-natürlichen Nation angehören müssten, die irgendwie schon immer da gewesen sind.

    Doch die Beschäftigung mit den Ideen Andersons und Hobsbawms haben mir gezeigt, dass dies nicht so ist. Dass Nationen eben keine naturgegebenen Gebilde sind, sondern einer bestimmten Zeit und ganz bestimmten Umständen entstammen – und eben konstruiert sind. Dass auch Traditionen nicht einfach entstehen, sondern erfunden werden müssen.

    Dabei geriet Hobsbawm nicht in das post-moderne Dilemma, Wahrheiten nicht aussprechen zu können, weil alles nur noch Diskurs sei. Dazu war er vielleicht auch zu politisch. Sein Leben lang war er Marxist. Noch 2009 sagte er in einem sehr lesenswerten Interview mit dem Stern:

    Auch der Kapitalismus, egal, wie zäh er ist und wie sehr er auch in den Köpfen der Menschen als etwas Unabänderliches erscheint, er wird verschwinden, früher oder später.

    Sein zuletzt veröffentlichtes Buch trug den Titel: „Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus“.

    Es ist bezeichnend für diesen großen Denker, dass selbst neo-konservative, wie Niall Ferguson, ihn als einen der einflussreichsten und gescheitesten Historiker unserer Zeit bezeichnen.

    Die Welt trauert um einen großen Historiker, einen der immer wieder für kleine Erleuchtungen gesorgt hat.

  • Schattenkampf (Arte)

    Schattenkampf (Arte)

    Schattenkampf (Screenshot)
    Schattenkampf (Screenshot)

    Dem deutsch-französischen Fernsehsender Arte ist mit dem Projekt Schattenkampf ein großer Wurf gelungen: Nicht nur die Dokumentation über den Widerstand gegen das Naziregime ist gelungen, auch der Versuch mit einem Cross-Media-Ansatz die heutigen Möglichkeiten von Geschichtsvermittlung im Internet zu nutzen, ist ein voller Erfolg.

    Unter http://schattenkampf.arte.tv/ gibt es zunächst eine Einführung in das Thema Widerstand gegen das Naziregime als Video. Dann startet die Dokumentation mit den Interviews der Zeitzeugen.

    Beeindruckende Zeugnisse des Widerstandes gegen den Naziterror sind auf diese Weise durch Zeitzeugen für jede_n zugänglich und für die Nachwelt konserviert. Zu allen Zeitzeugen gibt es kurze biografische Hinweise, die beim thematischen Quereinstieg helfen, die Interviews einzuordnen.

    Denn der Zugang zu den einzelnen Interviewausschnitten erfolgt nicht zwangsläufig gradlinig in Form eines fortlaufenden Films, sondern kann darüber hinaus thematisch oder geografisch erfolgen.

    Schattenkampf (Screenshot)
    Schattenkampf: Biografische Informationen (Screenshot)

    Unter der Überschrift Der Tag der Befreiung versammeln sich beispielsweise Eindrücke von Zeitzeugen über die Tage der Befreiung durch die Alliierten und die Rückkehr der Widerstandskämpfer in ihre jeweiligen Heimatstädte und -dörfer.

    Hilfreich ist dabei, dass bereits gesehene Interviews und Themen entsprechend mit einer Banderole („gesehen“) markiert werden und so eine schnellere Navigation zulassen.

    Das einzige Manko bleibt die Programmierung der kompletten Seite in Flash. Das mag zwar gut aussehen und funktioniert mit den meisten Rechnern und Browsern heutzutage, sperrt aber teilweise Internetnutzer aus, die auf barriefreie Webseiten angewiesen sind. Zudem wäre eine Videonavigation schön gewesen, die es erlaubt, vor- oder zurückzuspulen.

    Fazit: Ein großartiges Projekt, das trotz Abzügen in der Barrierefreiheit großartig für die Anforderungen des Internets umgesetzt wurde.

  • “Geschichte im Internet”

    “Geschichte im Internet”

    Screenshot "Geschichte im Internet"Habt ihr bei Google schon mal den Suchbegriff “Geschichte im Internet” eingegeben? Noch nicht? Es erscheint auf Platz eine Seite, die eine Linksammlung verspricht und den Titel “Geschichte im Internet” trägt:

    Das Verzeichnis „Geschichte im Internet“ wurde Anfang 1995 von Stephanie Marra gegründet. Gegenwärtig befindet sich das Angebot auf dem Webserver der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dortmund. Es handelt sich um den ältesten geschichtswissenschaftlichen Webkatalog im deutschsprachigen Raum, der bis heute kontinuierlich gepflegt und ausgebaut wird. 2001 erfolgte die Umstellung des Katalogs auf ein datenbankbasierendes Redaktionssystem.

    Aha. Vielleicht hätte man sich die Umstellung auf die Datenbank sparen sollen, denn es gibt offensichtlich einen Datenbankfehler. Jeder einzelne externe Link führt zu einem Fehler.

    Screenshot "Geschichte im Internet" - Fehlermeldung

    Ein treffenderes Beispiel für die stiefmütterliche Behandlung des “WorldWideWebs” durch Universitäten, Behörden und historische Institute kann man sich kaum ausdenken. Da vegetiert also eine gewaltige Linksammlung vermutlich auf dem Stand von 2001 vor sich hin und niemand kümmert sich drum.

    Das schlimme daran ist: Irgendwann in gar nicht so ferner Zukunft werden solche Institutionen in übersteigertem Aktionismus versuchen das Onlinevakuum zu füllen in dem sie viel Sinnloses machen und dafür viel Geld ausgeben. Anstatt sich schrittweise den technischen Möglichkeiten und den Bedürfnissen der Nutzer anzupassen.

  • annefrank.org

    annefrank.org

    Ein Beispiel für eine wirklich gelungene Webseite mit historischem Hintergrund ist die Seite der Anne Frank Stichting: annefrank.org.

    Neben praktischen Informationen zum Museum in Amsterdam und weiterführenden Informationen zur Arbeit der Stiftung sind es vor allem die fundierten und gut aufbereiteten Informationen zu Anne Franks Geschichte, die einen überzeugenden Eindruck der Webseite hinterlassen. Hier zeigt sich welche Möglichkeiten Geschichtsvermittlung im Internet hat – und wie sie auf viel zu vielen Seiten ungenutzt bleiben.

    Screenshot annefrank.org
    Screenshot „Zeitleiste“ auf annefrank.org

    Großartig umgesetzt ist beispielsweise die in sieben Sprachen verfügbare Zeitleiste, in der vorbildlich die Geschichte der Familie Frank mit jener Mitteleuropas verbunden wird.
    Interaktive Elemente laden dazu ein, auf Entdeckungstour zu gehen und helfen dabei, das bestehende Wissen zu kontextualisieren.

    Screenshot annefrank.org
    Screenshot „Hinterhaus Online“ auf annefrank.org

    Einen ähnlichen Weg, der noch stärker auf die Interaktion mit den Nutzern setzt, ist das Hinterhaus Online. In einem 3D-Modell des rekonstruierten Hauses können die Nutzer die eingerichteten Räume des Verstecks der Familie Frank erkunden. Ein einführendes Video informiert zunächst über die Gründe für die Flucht und das Versteck und dann kann der Weg durch den Bücherschrank direkt in das Haus gewählt werden.

    Im Innern können sich die Nutzer frei durch die engen Räume bewegen. Symbole zeigen weitere Informationen an. Kurze Filme sollen den Alltag Annes und ihrer Familie deutlich machen.

    Dieser virtuelle Rundgang zeigt, wie gut neue Medien zur Geschichtsvermittlung eingesetzt werden können und ist in diesem Sinne vorbildlich.

    Darüber hinaus beweist auch die intuitive Menüführung und das aufgeräumte Design, dass annefrank.org Maßstäbe für die Onlinepräsenz von Museen setzt.

    Völlig zurecht gewann die Webseite daher 2010 den Webby Award in der Kategorie “Best Cultural Institution”.

    Ein sehr interessanter Teil der Webseite ist die Kategorie Inspiration, in der die Nutzer sich mit den Facebook- und Youtube-Seiten des Museums verbinden, Spenden an das Museum entrichten und auf kreative Art mit ihren Eindrücken umgehen können.

    So gibt es die Möglichkeit seinen Gefühlen durch ein Bild oder ein Text Ausdruck zu verleihen oder sich am Anne Frank Baum zu verewigen.

    Screenshot annefrank.org
    Screenshot „Anne Frank Baum“ auf annefrank.org

    Die Geschichte der Familie Frank lädt schon seit der Veröffentlichung des Tagebuchs der Anne Frank Menschen dazu ein, sich mit Verfolgung, Ausgrenzung, Antisemitismus und Faschismus zu beschäftigen. Die Webseite der Anne Frank Stiftung macht auf vorbildliche Weise deutlich, wie das auch mithilfe der neuen Medien funktioniert.

    Fazit: Diese Seite setzt Maßstäbe.